Migrationshintergrund

Der Hintergrund bleibt stets im Vordergrund

Ein linguistischer Kommentar

MiGAZIN-Kolumne vom Juni 2020

Seit Tagen wird über die Auseinandersetzungen in Stuttgart zwischen Jugendlichen und der Polizei debattiert. Ganz vorne mit dabei ist das Boulevardblatt "Bild". Und es liefert ein Paradebeispiel der eigenen Schlagzeilensystematik: Die da!-Fingerzeig.

 

Jugendliche und Erwachsene haben sich vor wenigen Tagen in Stuttgart Auseinandersetzungen mit der Polizei geliefert. Bundesweit wird seitdem über diese Ereignisse debattiert. An vorderster Front mit dabei: das Boulevardblatt „Bild“.

 

Trotz riesiger Schriftgröße finden sich bei der „Bild“ aber paradoxerweise die interessantesten Einsichten in die dahinterliegenden Weltbilder in den Zwischenzeilen – wie auch beim Artikel vom 22. Juni 2020.

„Bild“-Schlagzeilensystematik: vermeintlich einfach

Aber Schritt für Schritt: „Das sind die Festgenommenen der Stuttgarter Randale-Nacht“ prangt in großen Lettern auf dem Bildschirm – ein Paradebeispiel der „Bild“-Schlagzeilensystematik: Die inhaltliche Grundaussage beschränke sich auf einen „Die da!„-Fingerzeig sprachlicher Art. Dazu leite man ein mit einem bestimmten Artikel plus einem möglichst einfachen Verb („Das sind„) gefolgt von der konkreten Zuschreibung („die Festgenommenen„), die zumeist noch mit einem Genitivattribut („der Stuttgarter Randale-Nacht„) ausgeschmückt werde. Nicht zu vergessen sei natürlich noch die Wortneuschöpfung durch Zusammensetzung zweier Substantive („Randale-Nacht„) – aber bitte mit Bindestrich, damit es nicht zu kompliziert werde.

 

Eingeleitet wird diese Überschrift mit einer kurzen Aufzählung: „12 Ausländer, 9 Deutsche, 3 Deutsche mit Migrationshintergrund„. Und hier springt dem Leser des Pudels Kern förmlich an: Durch die Einteilung in unterschiedliche Kategorien werden Gegensätze aufgebaut – soll heißen: Es gibt nach diesem Verständnis „Deutsche“ und „Deutsche mit Migrationshintergrund“.


An dieser Stelle sei gesagt: Mir geht es nicht um das konkrete Geschehen, die konkreten Taten oder die konkreten Akteure, sondern um die dahinterliegenden Diskursmechanismen. Schlichtweg die Frage: Warum wird solch eine Formulierung hier verwendet und was bedeutet das?

Migrationshintergrund: eine vermeintlich neutrale Bezeichnung

Ein häufiges Gegenargument lautet dabei: Was soll diese Aufregung? Es handelt sich bei „Migrationshintergrund“ doch lediglich um eine offizielle und amtliche Bezeichnung, oder?

 

Ja und Nein. Ja, weil die Bezeichnung Migrationshintergrund 2005 vom Statistischen Bundesamt als amtlicher Terminus eingeführt wurde. Demnach hat eine „Person (…) einen Migrationshintergrund, wenn sie selbst oder mindestens ein Elternteil die deutsche Staatsangehörigkeit nicht durch Geburt besitzt“. Problematisch ist diese „Zuschreibung eines Migrationshintergrunds allein aufgrund der Geburtsstaatsangehörigkeit der Befragten oder eines Elternteils“ aber bereits deshalb, weil sie „die gesellschaftliche Realität unzureichend ab(bildet)“ wie dies Dr. Anne-Kathrin Will für die Bundeszentrale für politische Bildung konstatiert.

 

Abgesehen davon ist diese Formulierung allerdings auch ein Paradebeispiel eines sprachlichen Phänomens, das Linguisten als semantischen Kampf bezeichnen. Und das führt uns auch dazu, weshalb diese Formulierung eben nicht nur eine amtliche, vermeintlich neutrale Bezeichnung ist, sondern in ihr auch stets unterschwellig bestimmte Deutungen und Wertungen mitschwingen.

Semantische Kämpfe: das Ringen um Deutungen

Das Grundprinzip der semantischen Kämpfe ist eigentlich ganz einfach. Es gelten drei Annahmen:

  • Sprache ist kein objektives Medium, was die Welt 1:1 abbildet. Sprache prägt unsere Weltbilder und beeinflusst nicht nur unser Denken, sondern auch unser Handeln. Das Prinzip der Embodied Cognition spricht hierbei Bände. Unser Gehirn muss zum Beispiel bestimmte Wörter nur hören, um damit assoziierte körperliche Prozesse anzustoßen. Lesen wir Wörter wie Erbrochenes verziehen wir aus Ekel bereits unwillkürlich das Gesicht.
  • Wörter transportieren Bedeutungen und Wertungen. Es gibt keine eigentliche Bedeutung von Wörtern, die ihnen stets untrüglich innewohnt. Denn Bedeutungen und Wertungen sind nicht statisch, sondern Teil von gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen. Die Bedeutungen von Wörtern ergeben sich somit aus ihrem Gebrauch in der Sprache, wie dies bereits der Sprachphilosoph Ludwig Wittgenstein prägnant betonte. Und das schließt eben nicht nur die konkrete inhaltliche Bedeutung, die Denotation, mit ein, sondern auch die implizit mitschwingenden Wertungen, die Konnotationen.
  • Um die konkreten Bedeutungen und Bezeichnungen wird dabei gerungen. Dabei geht es immer auch um Macht – denn wer seine Deutung und/oder Bezeichnung in einem Diskurs dominant setzen kann, erlangt Deutungshoheit und damit oft auch Handlungshoheit.

Dieses Ringen um Bezeichnungen, Bedeutungen und Wertungen sind eben die semantischen Kämpfe. Zum einen kann dabei um konkurrierende Ausdrücke gestritten werden. Sprechen wir von einer Revolution oder von einem Staatsstreich? Zum anderen kann über eventuell unterschiedliche Bedeutungen und Wertungen derselben Ausdrücke gestritten werden – die semasiologischen Bedeutungsfixierungsversuche. Und genau das passiert in diesem Fall.

Der Hintergrund stets im Vordergrund

Denn die weitere Deutung, die bei der Formulierung Migrationshintergrund stets mitschwingt, ist die eines Machtgefälles und einer verweigerten umfassenden Zugehörigkeit. Die Bezeichnung Migrationshintergrund löst das Anderssein von einer konkreten Migrationserfahrung ab – und ist damit zeitlos gültig und sogar vererbbar. Nach diesem Verständnis ist man halt eben stets kein/e „richtige/r Deutsche/r“, sondern bleibt stets „Deutsche/r mit Migrationshintergrund“. „Bild“ versucht in diesem Fall mit ihrer Sprachwahl also wieder einmal Gegensätze aufzubauen und Zugehörigkeiten abzusprechen, indem sie den Hintergrund in den Vordergrund rückt.


Dieser Beitrag ist Teil der Kolumne "Sprachrealitaet" des Online-Magazins MiGAZIN.
Zuerst erschienen bei 
MiGAZIN im Juni 2020.

© Picture: Elijah O Donnell on Unsplash


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