Sprache beeinflusst die Wahrnehmung der Welt aber nicht nur in der Gegenwart, sondern erstreckt sich auch auf die Vergangenheit. Dabei stellt die Erinnerung als solche bereits keine objektiven Abbilder der Vergangenheit dar. Stattdessen erinnern wir uns durch Re-Konstruktionen, die sprachlich weitergegeben werden.
Erinnerungen sind ein fundamentaler Bestandteil des menschlichen Seins und der menschlichen Psyche. Unsere Erinnerungen an die Vergangenheit sind in unserem Denken aber nicht als Ganzes gespeichert, sondern werden jedes Mal, wenn wir sie aufrufen, re-konstruiert. Das heißt aber auch, dass unsere Erinnerungen nicht statisch sind, sondern sich in einem kontinuierlichen Fluss befinden.
Das experiencing self der menschlichen Psyche, das sich auf die Gegenwart konzentriert, steht dabei dem remembering self des Menschen gegenüber. Was wir erleben, muss nicht notwendigerweise das sein, was wir erinnern. Wie wir die Information vergangener Situationen "verpacken", beeinflusst unsere Interpretation, wenn sie in unserer Erinnerung wieder aufgerufen werden. Um es mit dem Worten Daniel Kahnemanns auszudrücken: "Odd as it may seem, I am my remembering self, and the experiencing self, who does my living, is like a stranger to me.”
Wir erinnern uns an die Vergangenheit in Form von Geschichten. Die Geschichten, die wir uns selbst von der Vergangenheit erzählen, dienen auch dazu, uns selbst die Welt zu erklären. Wir bevorzugen dabei einfache Erklärungen, unabhängig davon, ob sie mit der (vermeintlichen) Realität harmonisieren oder nicht.
Die Geschichten, an die wir uns erinnern, sind also nicht notwendigerweise diejenigen, die mit der (vermeintlichen) Realität am meisten übereinstimmen, sondern diejenigen, die am besten mit unserem Weltbild harmonisieren und dabei die einfachsten Erklärungen bieten. Und diese möglichen narrative fallacies beeinflussen unsere Deutung der Gegenwart und Zukunft.
Das Gedächtnis, mit dem wir Erinnerungen speichern und aufrufen, ist aber auch sozial bedingt und somit auf Kommunikation angewiesen. Der Heidelberger Ägyptologie Jan Assmann unterteilt in seinen Auseinandersetzungen mit antiker Mythologie dieses sozial bedingte, kollektive Gedächtnis einer Gesellschaft in ein kommunikatives Gedächtnis und ein kulturelles Gedächtnis. Das kommunikative Gedächtnis bezieht sich auf die unmittelbare Vergangenheit, die noch mündlich durch Zeitzeugen erinnert werden kann. Das kulturelle Gedächtnis hingegen wird durch Verschriftlichung und Medien konstituiert.
Die Frage, was wie erinnert werden kann, schließt an das Zusammenspiel von Macht und Erinnerung an. Durch Sprache kommunizierte und dadurch re-konstruierte Erinnerungen dienen als Legitimation von Macht. Eine mögliche Zensur bedeutet nach Assmann demnach auch die "Eliminierung von Gegen-Erinnerungen und mit ihnen verknüpften Ansprüchen".